Wie mit Rachel Carsons „Silent Spring“ das moderne Umweltbewusstsein entstand

Wie mit Rachel Carsons „Silent Spring“ das moderne Umweltbewusstsein entstand

In „Silent Spring“ beschäftigte sich Rachel Carson mit dem Einsatz und den Folgen von Pestiziden. Das Buch wurde zum Bestseller, führte zum Verbot von DDT und zur Gründung der amerikanischen Environmental Protection Agency. Es gab damit der Umweltbewegung neuen Schwung und ist deswegen bis heute ein rotes Tuch für die chemische Industrie.

Mit den Flugzeugen kam das Gift. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie noch Bomben abgeworfen. Jetzt standen die Maschinen herum, also fand man einen neuen Nutzen, belud sie mit Gift und versprühte es über die Landschaften. Das Gift landete auf den Äckern, auf Wiesen, in Wäldern, sogar in den Vorstädten. Vom Wind davon getragen verbreitete es sich weiter über das Land. Es regnete herab auf Häuser, Tiere, Pflanzen, Bäume, und Menschen. Mit dem Gift kamen Krankheit und Tod.

Die Verantwortlichen schauten darüber hinweg oder glaubten naiv an den Erfolg ihrer Mission. Dabei handelten sie unverantwortlich, denn sie berücksichtigten weder bekannte Ergebnisse der Erfahrungen von den Sprüheinsätzen in anderen Regionen, noch ließen sie Forschung zu, um mögliche Folgen abzuwägen.

Rachel Carson beschreibt all dies in ihrem 1962 im New Yorker erschienenen Text „Silent Spring“ und landet mit dem daraus entstandenen Buch sofort einen Bestseller, der zahlreiche Wirkungen hatte: Kennedy ordnete die wissenschaftliche Überprüfung ihrer Ergebnisse an, es kam schließlich zum Verbot des Einsatzes des Pestizids DDT. Unter Nixon wurde acht Jahre später, auch eine Folge von „Silent Spring“, die amerikanische Umweltbehörde Environmental Protection Agency gegründet. Die Umweltbewegung, bis dahin zersplittert in viele Fraktionen mit jeweils eigenen Interessen, bekam neue Kraft, spürte die zukunftsweisenden Möglichkeiten gesetzgeberischer Prozesse.

Wir sind noch weit entfernt von einem allgemeinen Umweltbewusstsein in der amerikanischen Gesellschaft, aber  in den Geschehnissen, die die Veröffentlichung des Buches ausgelöst hat, liegt wahrscheinlich ein, wenn nicht der entscheidende Startpunkt dafür. Das Buch hatte auch wegen Carsons Stil großen Erfolg. Sie schreibt anschaulich und fast poetisch über ein trockenes und trauriges Thema. Mit ihrem kämpferischen Ton rüttelt sie auf und trifft einen Nerv in der Bevölkerung. Sie klagt an, bleibt dabei aber ausgewogen und argumentiert sachlich. Der moralische Zeigefinger, der heutzutage die Gegner von Umweltgruppen und Klimabewegung oft abschreckt und in Abwehrstellung bringt, ist dezent, aber nachdrücklich angehoben. Carson erzeugt keinen lauten Knall, sie meidet einen allzu alarmistischen Ton. Ruhig und bedächtig macht sie allerdings deutlich, dass wir uns selbst zerstören, wenn wir die Natur angreifen.

Wissenschaftspoesie

Rachel Carson wird am 27. Mai 1907 in Pennsylvania geboren. Ihre wissenschaftliche Ambition muss sie mit 28 Jahren aus familiären und finanziellen Gründen begraben, nimmt eine Stelle als Meeresbiologin in der amerikanischen Fischereibehörde an. Wenn sie nicht Wissenschaftlerin werden kann, sagt sie sich, dann wird sie Schriftstellerin. Ihr erster Artikel über die Umweltbelastung im Meer wird zum Erfolg, daraus entsteht schließlich das Buch „Under the Sea-Wind“. Die Historikerin Jill Lepore nennt sie die „Wissenschaftspoetin des Meeres“.

Weitere Veröffentlichungen folgen. Carson ist nun Schriftstellerin und gleichzeitig durch ihre Veröffentlichungen auch eine Art Wissenschaftlerin, zwar ohne Doktortitel, aber  ernst zu nehmen. Schließlich wenden sich ihre Interessen vom Meer ab und dem Land zu. Mit großer Sorge studiert sie Berichte über die Folgen des Einsatzes des Pestizids DDT. Dieses chemische Mittel wurde ursprünglich im zweiten Weltkrieg eingesetzt, um Soldaten vor Malaria zu schützen. Es kam nun wegen seiner hohen Wirksamkeit bei der Insektenvernichtung zunehmend flächendeckend in der Landwirtschaft zum Einsatz.

Carson befürchtet dadurch zu Recht größere Folgeschäden für Mensch und Umwelt, die in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen. Sie fängt an, akribisch zu recherchieren, studiert die chemische Zusammensetzung verschiedener Pestizide, liest Berichte über deren Einsätze, spricht mit betroffenen Menschen. Sie erkennt, dass das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur durch die verschiedenen Pestizide stark gefährdet ist, vor allem durch das weit verbreitete DDT.

Der „totale chemische Krieg“

„Der unheimlichste aller Angriffe des Menschen auf die Umwelt ist die Verunreinigung von Luft, Erde, Flüssen und Meer mit gefährlichen, ja tödlichen Stoffen“, schreibt Carson. Sie spricht von einem „Zeitalter der Gifte“. Der Gebrauch von toxischen Chemikalien verunreinige derart unsere Lebensmittel, dass es uns nicht besser ergeht als den Gästen der Borgias. Von der Geburt bis zum Tod sind wir diesen Chemikalien ausgesetzt, die sich immer mehr in unseren Körpern ansammeln und uns vergiften. Nicht nur Farmer und Firmen benutzen diese Gifte, um billiger zu produzieren, sondern auch wir wenden sie in unseren Küchen und Gärten an, um Insekten zu töten. Die Chemikalien sind in den Flüssen, im Grundwasser, in den Böden, in Fischen und Vögeln, Haus- und Wildtieren. Sie vergiften nicht nur, sondern manipulieren biologisches Leben, indem sie Erbgut verändern.

Carson fragt, warum wir die Produktion der Landwirtschaft steigern wollen, wenn wir mehr produzieren, als wir brauchen und konsumieren können? Sie weiß allerdings, dass es kein Zurück mehr gibt in eine Welt ohne Chemie. Jedoch ist sie der Meinung, dass viel zu giftige Chemikalien in die Hände von weitgehend Ahnungslosen geraten sind, die für die Sprühprogramme verantwortlich sind. Diese Wissenschaftler haben sich als unfähig erwiesen, das große Ganze zu sehen, das Gleichgewicht und die Regulierungskräfte der Natur zu berücksichtigen. Insekten sollten vernichtet werden, ohne dass man wusste, wie sich die Chemie auf Boden, Wasser, Tiere und Menschen auswirkt. Die landwirtschaftliche und chemische Industrie mischt mit, weil sie Geld verdienen will, Proteste der Öffentlichkeit werden ignoriert. Der Preis, den die Bevölkerung zahlt, ist hoch.

Detailliert und durch zahlreiche Fallbeispiele beschreibt Carson die Folgen des „totalen chemischen Krieges“. Die größte Ironie liegt für Carson darin, dass das Ziel, die Natur so zu formen, wie wir sie gerne hätten, nicht erreicht worden ist. Im Gegenteil: Viele Insekten nämlich werden widerstandsfähiger, passen sich den Chemieduschen an, werden durch natürliche Auslese resistenter. Gegen die Raupe des Apfelwicklers etwa oder auch gegen bestimmte Kartoffelschädlinge kann Chemie kaum noch etwas ausrichten. Der Mensch selbst hingegen passt sich dieser veränderten Umwelt und den neuen  chemischen Einflüssen nur in sehr langen Zeiträumen an. Anders als bei Insekten sind dazu viele Generationen nötig, um Resistenz zu entwickeln. Zudem schwächen wir die Natur so, dass es ihr selbst unmöglich wird, bestimmte Arten unter Kontrolle zu halten, andere Schädlinge breiten sich nun ungebremst aus.

Wir töten unsere Feinde, aber auch unsere Freunde, wodurch wiederum andere Feinde und Schädlinge sich ungehindert ausbreiten. Carson nennt viele Beispiele: Spinnmilben verbreiteten sich weltweit nach Sprüheinsätzen mit DDT, verwüsteten große Flächen von Wäldern im Westen der USA, nachdem ihre natürlichen Feinde, darunter Marienkäfer, durch Insektizide vernichtet worden waren. Der rotgestreifte Blattwickler zerstörte die Ernte in Obstgärten im Osten und im Mittleren Westen der USA, nachdem dort gesprüht worden war. Im Sudan befielen Kapselwürmer nach DDT-Einsätzen die Baumwollfelder, Kaffeesträucher in Uganda und im Kongo wurden durch neue Schädlinge nach Sprühungen beschädigt. Man tauschte einfach einen Schädling gegen einen anderen aus.

Carson ist nicht gegen die Bekämpfung von Schädlingen, das macht sie immer wieder klar. Sie weiß, dass wir nicht zurück in die vorindustrielle Zeit können. Carson plädiert für die Erforschung biologischer, nicht chemischer Bekämpfungsmaßnahmen. Wir müssen die Lebewesen, die wir bekämpfen, genau kennen, und wir müssen ihre ganze Lebensgemeinschaft und Umwelt einkalkulieren, sagt sie. Im letzten Kapitel, „Der andere Weg“,  beschreibt sie hoffnungsvoll den Stand der Forschung hinsichtlich einer biologischen Schädlingsbekämpfung, z.B. Sterilisierungsmittel für Insektenmännchen oder die Anwendung von Insekteneigenen Giften, Lockmitteln oder insektiziden Bakterien.

Unter Beschuss

Vier Jahre arbeitete Carson an „Silent Spring“. Sie erkrankt währenddessen an Brustkrebs, schafft es dennoch, das Buch zwei Jahre vor ihrem Tod 1964 fertigzustellen. Mit den Aussagen des Buches schafft sie sich  mächtige Gegner, nämlich die chemischen und agroindustriellen Unternehmen, die Pestizide gegen Unkraut und Schädlingsbefall sowie chemische Düngemittel produzieren. Diese versuchen zunächst die Publikation des Buches zu stoppen. Als das misslingt, investieren sie viel Geld in PR-Kampagnen. Carson sollte diskreditiert werden, sei keine echte Wissenschaftlerin, Pestizide seien harmlos und nützlich. Ohne Erfolg: Kennedy lässt Carsons Erkenntnisse durch Wissenschaftler im President´s Science Advisory Committee  (PSAC) überprüfen. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass Carson recht hat. Bewegung kommt in die Sache, im Kongress wird der Clean Air and Water Act verabschiedet, verschiedene Umweltbehörden werden geschaffen. Schließlich kommt es 1972 unter Nixon zur Gründung der US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency.

DDT selbst wird schließlich 1972 in den USA verboten. Im gleichen Jahr verbietet auch Deutschland den Einsatz, es ist hier das erste umfassende Verbot von Umweltchemikalien. Das Gesetz in den USA auf den Weg zu bringen, lag vorrangig am politischen Willen. Die Wissenschaft hatte allerdings einen entscheidenden Anteil, ging Hand in Hand mit der Politik. Nixon, nicht gerade bekannt als großer Umweltschützer, trieb diesen Prozess vehement an, allerdings eher aus wahltaktischen Gründen – Umweltthemen wurden in den USA immer wichtiger.

Überhaupt entwickelte die Umweltbewegung in den USA und auf globaler Ebene nach Erscheinen von „Silent Spring“ neue Kraft, viele sehen sogar dort ihren eigentlichen Anfang. Wahr ist wohl eher, dass es vorher viele Umweltbewegungen gab, nicht eine Bewegung an sich. Diese verfolgten jeweils ihre Partikularinteressen, wollten z.B. bestimmte Tierarten retten und konzentrierten sich ausschließlich auf ihr Thema. Nach „Silent Spring“ drang das Umweltbewusstsein weltweit tiefer in die Gesellschaft herein. Die Umweltbewegung, die daraus entstand, war globaler ausgerichtet und dachte in größeren Zusammenhängen als ihre Vorgänger. Zudem wurde deutlich, dass der Kampf um politische Regulierung ein Weg sein kann, wirkliche Erfolge zu erzielen.

An den aktuellen und anhaltenden Diskussionen um das Herbizid Glyphosat sieht man allerdings, dass es nicht einfach ist, alle Interessen unter einen Hut zu bekommen und warum die Kernaussagen von „Silent Spring“ auch heute wichtig sind. Immer noch stehen Effizienz und Profit vor Menschenrechten und Umweltschutz. Daher ist es wichtig, dass eine kritische (Gegen-) Öffentlichkeit gegenüber Konzerninteressen Gehör findet. Bestimmte Firmen wie Monsanto – jetzt ein Teil von Bayer – haben  zu Recht einen katastrophalen Ruf in der Öffentlichkeit. Auch die konventionelle Landwirtschaft an sich steht zunehmend in der Kritik – sie ernährt uns zwar immer noch zum weitaus größten Teil, zerstört aber auch die Böden und die Artenvielfalt, verschmutzt Wasser und Luft, und trägt schließlich auch zum Klimawandel bei.

Apropos Klimawandel: Dieser führt zu fortschreitender Desertifikation, zum Beispiel im östlichen Afrika, was dort dieses Jahr zu einer riesigen Heuschreckenplage geführt hat. Die Heuschrecken vernichteten Ernten, bedrohten die Nahrungssicherheit und die Einkommen der betroffenen, meist armen Länder. Sie müssen nun mit Hilfe von Pestiziden bekämpft werden. Womit wir wieder beim Anfang wären.

History repeating

Für die Industrie bleibt Carson selbst nach ihrem Tod Feindbild Nr. 1. Sie versucht bis heute, Carsons Ruf zu zerstören. Wegen Carson seien Millionen von Afrikanern an Malaria gestorben, sie sei schlimmer als Hitler. Konservative Think Tanks in den USA bezeichnen die „Hysterie“ um Carson als übertrieben, arbeiten am Comeback von DDT, säen Zweifel und Desinformation. Wie so oft, wenn Geschäfte in Gefahr sind.

Die Environmental Protection Agency (EPA) feiert Rachel Carson unterdessen auf ihrer Website, bezeichnet sich selbst als „extended shadow of Rachel Carson“. Trump bläst allerdings zum Angriff auf die Umwelt, sah nach seiner Amtseinführung in der EPA eines der größten Hindernisse für die Interessen amerikanischer Konzerne. Erst kürzlich stoppte die EPA, nun mit Trump-Getreuen besetzt, ein noch von Obama  auf den Weg gebrachtes Verbot des Insektizids Chlorpyrifos. Dieses ersetzte DDT nach dessen Verbot weitgehend. Die Folgen dieses Pestizids werden in den USA seit längerem kontrovers diskutiert. Die EU hat es bereits verboten.

Täglich grüßt das amerikanische Murmeltier. Die Geschichte hört einfach nicht auf, sich zu wiederholen. Nur kommt sie hier nicht erst als Tragödie, und dann als Farce, wie Marx meinte, sondern wahrscheinlich einfach nochmal als Tragödie. Wir wissen immer noch zu wenig darüber, wie alles mit allem verbunden ist und was wie und wann auf das sensible Ökosystem der Erde wirkt.

Rachel Carson: „Der stumme Frühling“. C.H. Beck 2012.

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